Gedanken, unangebunden

09.08.2022 Oft habe ich mich gefragt, warum öffentliche Vorwurfsdiskurse so scharf geführt werden. Gender, me-too, Antisemitismus und Postkolonialismus sind Themen mit Beschuldungspotenzial, die sich oftmals wechselseitig in die Quere zu kommen drohen (die Diskussionen um die diesjährige Dokumenta erscheint mir als so eine Kollision verschiedener Konfliktlinien). Und posthum werden Leistungen umgewertet, werden Errungenschaften zu Diebesgut, zu Effekten überzogener Gruppenegozentrik. Es ist, als hätten wir nun immer damit zu rechnen, dass wir inmitten eines Erfolgs, der Erfüllung eines langersehnten Wunsches, oder in der rückblickenden Freude auf Erreichtes angehalten zu werden. Denn dann kommt Gott, die Natur oder der Tod und sagt: „Lange durftest du wachsen, durftest du von anderen nehmen, was du wolltest, lange ließ ich dich leben und dich sonnen in den Gütern der Welt, aber nun ist genug, nun hast du zurückzugeben, was du dir nahmst. Dinge, Ehren, Errungenschaften, nichts ist ewig. Einst warst du groß, einst galt dein Wort, galt deine Tat. Nun kommen andere, kommen jene, deren Eltern du verdrängtest und dein Tun und Sagen wird nichts mehr gelten.“ Es erheben sich die Rechte der einst Abgedrängten, die Letzten beanspruchen, die ersten zu sein. So will es das jesuanische Gesetz.

So erscheinen die Bewegungen des Vorwurfs wie Stimmen eines jüngsten Gerichts, me too nach dem Rock’n Roll, die endlosen Vorwürfe sinnloser Gewalt an die Kirche, die zu neuem Selbstbewusstsein erstarkenden Nationen Afrikas und Asiens mit dem Vorwurf eurentrischer kultureller Aneignungen. Möglicherweise ist nichts dagegen gefeit, einst vom Thron der Gerechtigkeit gestürzt zu werden. Daher leuchtet mir der Tod durch Vorwurfdiskurse, oder die Natur, die sagt: Du gingst aus mir hervor, du musstest verdrängen und töten, um zu leben, nun hole ich dich zurück.

Eine andere, weniger religionsnahe Perspektive sieht in den Vorwurfdiskursen, insbesondere in den Selbstbezichtigungen des Westens den Ausdruck einer Höherentwicklung der Menschheit. In einer Global vernetzten Welt, in der jeder Mensch in vielfältigen Beziehungen ganz um den Erdball engagiert ist und an verschiedensten Orten seine berufliche und mitmenschlichen Rollen findet, sind feinmaschige Gerechtigkeitsnormen nötig. Der Sinn der Netze erfüllt sich, wenn möglichst viele, ja möglichst alle Menschen an die soziale Orte gelangen können, in denen sich ihre Potenziale maximal entfalten können. Wo Rassismus, Sexismus usw. herrschen, werden zu viele Diskriminierte gehemmt agieren, in Furcht und Ressentiment unter den Möglichkeiten ihres Lebens bleiben und damit weder sich, noch den Mitmenschen, noch der Natur voll dasein können. Die Gerechtigkeitsbestrebungen verteilen Entwicklungschancen, so die Idee, und damit entsprechen sie einem menschlichen Bedürfnis: dem, in einer gerechten Welt zu leben, Teil einer gerechten Ordnung und selbst gerechtfertigt zu sein. Die Stoßrichtung linker Bewegung erscheint mir als ein moralischer Universalismus.

Die politische Rechte hingegen hält stärker am Recht auf Territorien fest, wie der Bär, der seinen Bau verteidigt. Die rechte Kritik am linken Universalismus benennt aber auch eine Gefahr der Entwurzelung, durch Verlust einer Bindung an Transzendenz (Religion), an historische Vorbilder (Traditionszugehörigkeit, Bindung durch mimetische Neigung, eine gepflegte Gemeinsamkeit mit Jahrhunderten leiblicher, territorialer und geistiger Vorfahren). Der Kampf gegen Links ist möglicherweise durch die Idee einer solchen Entwurzelungsgefahr motiviert, wonach Traditionen des Glaubens, der Königreiche, der Familie, der Moral samt ihrer Tugenden nichts mehr gelten.

Aber vielleicht wehren sich diese Traditionen im Kampf gegen links ebenfalls gegen den Tod, der anklopft. gegen Gott. Gegen die Natur. Gegen das Jüngste Gericht. Gegen das Unbedingte einer Universalisierungstendenz, die dem Leben und der menschlichen Kultur und ihrem Streben nach Wahrheit innewohnt.

19.09. 2021 Nach über einem Jahr der Abstinenz nehme ich wieder den Pfad der Versprachlichung von Gedanken auf. In den letzten Jahren habe ich mich viel gefragt, warum Habermas glaubt, dass die christliche Religion ein Ressource der Zivilgesellschaft ist, dass diese ohne Religion nicht die nötigen motivationalen Quellen der Solidarität hervorbringen würde, die selbst für die säkulare Gesellschaft notwendig sind. Was mir auffiel, wenn ich die Lebensgeschichten vieler christlich geprägten Menschen in meiner Umgebung überdachte, ist dass das Beziehungsleben und Familienleben mehr Möglichkeiten zu haben scheint, nachhaltig zu bleiben. Es gibt eine andere Zuversicht in der gefühlten Einstellung, für andere da zu sein. Während im säkularen Umfeld ein Großteil der Ehen zerfiel, scheinen die christlich geprägten Ehen irgendwie frustrationstoleranter, hoffnungsvoller, oder besser gesagt: es scheint andere Motivationsquellen dafür zu geben, sich aufzuraffen und zuversichtlich an einem gemeinsamen Weg zu arbeiten, wenn es mal kritisch wird. Bei näherem Hinsehen gibt es ein Ethos der Liebe, in dem sowohl die erotische Anziehung als auch führsorgliche Liebe „metaphysisch“ einem kosmischen Prinzip (oder „göttlichen Willen“) entstammen, und wonach nicht erst im Jenseits, sondern schon hier ein Dasein für den Anderen eigentümlich „belohnt“ wird. Die Akzeptanz des Anderen trotz seiner Schwächen und Unansehnlichkeiten fällt leichter, sie ist eine „metaphysische“ Aufgabe, sie symbolisiert ein gemeinsames Tragen der conditio humana, der Sterblichkeit, Begrenztheit und Ausgesetztheit, die wir teilen. Und auch das Wiederfinden nach einem Zwist, wo an etwas Übergeordnetes, Größeres geglaubt wird. Es gibt ein Bewusstsein dafür, dass ein Stück Welt besser wird, wenn man dem Anderen und dem Gemeinsamen „dient“, dass wirklich etwas besser, lebenswerter, farbiger, reicher wird. Und dieses Bewusstsein eines „Höheren“ geht im christlichen Ethos mit der Erfahrung, einher, dass ein vertrauendes Leben jenseits der Egozentrik freier pulsiert. Und dies zu bedingen, dass oftmals jenes Hineinsteigern in ein Gefühl der Zumutung gestoppt wird, das in säkularen Kontexten regelrecht als Anzeiger vitaler Selbstständigkeit erscheint und in Liebesbeziehungen und Ehen oftmals die affektive Rechtfertigung für den Bruch liefert.

Wer sich, wie viele Christen in „lebendigen Gemeinden“ und ihren Hauskreisen, regelmäßig darin übt, Andere zu akzeptieren, und zu sehen, was Andere brauchen könnten, wie ihnen individuell und gemeinschaftlich entgegengekommen werden könnte, wie Strauchelnde gestützt werden könnten usw: Wer sich darin beharrlich übt, wird statistisch wohl ebenso in solchen Angelegenheiten sein, wie jemand, der regelmäßig im Verein Basketball spielt, eben auch da besser spielt. Das Niveau zwischenmenschlichen Verstehens hängt auch von der Übung der entsprechenden Assoziation, affektiven Gegenwart und Motivation ab.

Die Religion wird vielfach für die oft kitschigen Selbsttäuschungen kritisiert, die sie zu nähren scheint. Zuletzt habe ich mich oft gefragt, ob sie nicht die geringeren Übel sind, verglichen mit allerlei Rauschmitteln, die uns in Träume befördern, oder narzistische Selbstbespiegelungen, Zurechtinterpretationen des eigenen Handelns, um im eigenen Würdegfühl bestehen zu bleiben. Viele dieser leicht zuhandenen Mittel der Selbstbefreiung von der Last des eigenen Lebens, scheinen graduell viel an Notwendigkeit zu verlieren, wenn das religiöse Vertrauen in einer höhere Instanz, eine höhere Möglichkeit erstarkt (Habermas spricht von „religiöser Musikalität“). Ein solches Vertrauen mag sich oft in märchenhafte, kindhaft anmutende Bilder kleiden, die dann von vielen buchstäblich geglaubt sein mögen. Abseits davon, die Gefahren von fudamentalistischen Haltungen zu leugnen, bleibt mir dann doch die Frage, ob diese nicht das geringere Übel darstellen, wenn man sie mit den hybriden Aufbrüchen einer immer grandioser werdenden Bescheunigungs- und Wettbewerbszivilisation vergleicht.

02.07. 2020. In den letzten Wochen hatte ich immer wieder die Möglichkeit, durch das Fenster die Vögel in den Büschen zu beobachten. Es ist seltsam, wie sich das Bild der paradiesischen Schönheit schnell wandelt, wie die Furcht vor dem Feinde in eine schreckhafte Impulsivität einwuchs. Es ist fast, als wäre der Rhythmus der Kleinvögel überhaupt einer des ständigen Hakenschlagens, ständigen Ausweichens, als bestünde das ganze Leben zu größten Teilen aus Flucht, Kampf, Essensarbeit, d.h. dem Erhalt der organischen Ordnung (mit ihren schönen Mustern), Aufzucht der Jungen, die mächtig drängen und fordern. Und dann gibt es immer wieder die Singmomente bei den Singvögeln, ein leichter Glanz über einem ansonsten mühseligen Leben voller Konkurrenz und voller Gefahren.

Ein permanentes Übergehen von Flucht, Arbeit und Kampf, die Anstrengung des Alltags ist etwas, was wir den schönen Menschen, ihren Ritualen und Feiern ebenso wenig ansehen, wie den Singvögeln, deren leichte Beweglichkeit uns ein Bild von Lebensfreude suggerieren mag. Der Eindruck, der sich mir mit der Zeit aufdrängt, ist dass das Leben sich meist an der Grenze der Leistungsfähigkeit erhält und reproduziert, und unser Beschleunigungsstress nur ein Effekt neuer Technologien, Strategien und Möglichkeiten ist, die das Niveau des Machbaren erhöhen, und damit die Grenze der Leistungsfähigkeit verschieben. Wir füllen die freien Räume entsprechend mit Konkurrenz, Kampf, Flucht usw., einem blinden Prinzip folgend, das basal ist wie der Konzentrationsausgleich in der Chemie.

07.06. Goethes Werk hat mich in der Jugend nicht annähernd so sehr gefesselt, wie dasjenige Hölderlins. Hölderlins Dichtung ist klanglich und bildlich von einer Konkretheit und Unverwechselbarkeit, einer Sehschärfe und Farbigkeit, die ich bei Goethe vielleicht nie erlebte. Und dennoch kann Goethes Werk durch einen Hölderlin nie ersetzt werden. Bei Hölderlin geht es immer um alles. Bei Goethe haben wir den Blick für alle Reichtümer des Lebens. Sein Werk kennt so viele Töne, so viele Motive, Nuancen, Haltungen, die ein Leben oder auch eine zwischenmenschliche Beziehung reich machen können. Und seiner Kunst unterliegt eine seelisch-geistige Ökonomie, ein großes Gleichgewicht. Das ermöglichte es ihm, in ganz verschiedenen Richtungen und mit Geschmack und Phantasie Räume für souveräne Künstlerschaft, für ein Selbstverständnis des autonomen Dichters und Denkers zu weiten. Ich finde Gedichte, die so etwas wie einen „Heine“-Ton tragen, solche, die in die Richtung Hölderlins mythischer Welten vorstoßen, vereinzelt auch Prosa, deren Dichte an Kleist erinnern kann. Goethes Kreativität hat viel freies Spiel, der Charakter von Arbeit oder beschwerter Grübelei scheint ihrem Ausdruck fern.

Wenn Kassner von Hölderlin spricht, so in höchsten Tönen. Aber verglichen mit den wenigen Worten, er Hölderlin widmet, ist sein ganzes Werk voll von Bezügen auf Goethe. Vielleicht aufgrund der Weite der Horizonte, in denen sein Werk etwas entdeckt, etwas von dem, was uns Lebendigkeit verleiht.

04.05. Der anhaltende Ausnahmezustand wird für viele unerträglich und das Drängen auf eine Aufhebung der Maßnahmen nimmt zu. Was ist hier die Rolle des Staates und der öffentlichen Medien? Wir erwarten mehr Transparenz bezüglich der Datenlage und der Entscheidungsprozesse. Der Mangel wird von böswilligen Interpreten als Anzeichen einer Verschwörung ausgelegt. Auch wenn ich dies für infantil halte, für ein Zeichen der Unreife und geistigen Unverantwortlichkeit vieler Bürger, zeigt es, dass der Staat seine Rolle möglicherweise schlecht spielt und entsprechenden Theorien mehr als nötig Raum bietet.

Wenn es stimmt, dass uns die Digitalisierung in der Entwicklung zurückwirft, uns neu zu Jugendlichen macht, zu Pubertierenden, die ihre Impulse risikoreich erst einmal kennenlernen müssen, bevor sie zu Erwachsenen reifen, dann ist die Rolle des Staates sicher immer auch eine maternalisierende: Es muss auf den Bock, den unverständigen Impuls reagiert werden, er muss wohlwollend abgefangen, verstanden, eingehegt werden, und immer wieder auch einfach sich selbst überlassen werden. Zu einer wohlwollenden Einhegung gehört dann auch ein geduldiges Verständlichmachen der getroffenen Entscheidungen, eine Arbeit an einem gemeinsamen Verstehen.

Das ist alles andere als leicht, gerade auch, weil hierzu möglicherweise viel zu wenig Vorbereitungen getroffen wurden. Manchmal manipulative Tendenzen, die etablierten Medien vorgeworfen werden, sind nicht nur ein Versäumnis der Politik, sondern auch ein Effekt wechselseitiger Anpassung von Politik, Medien, und Rezeptionskultur. Eine leicht emotionalisierbare Öffentlichkeit muss immer auch vor tiefergehenden Tabubrüchen geschützt werden, da die irrationalen Lauffeuer, die hier entstehen, schwer zu stoppen sind. Eine emotionale Willkürlicheit ist sicher nicht nur ein Produkt von ungünstiger Politik und unverantwortlichem Journalismus, sondern immer auch mitbedingt durch die passende Rezeptionshaltung (so wie Scheuklappen zu Pferden passen, die leicht scheuen…).

Das Allgemeine Niveau der Rezeptionskultur scheint mir weit unter den Erfordernissen unserer komplizierten und extrem weiten Informationswelt zu stehen. Hier sind wir wie Kinder, die sich unverstandenen Dynamiken des emotionalen Geschehens überlassen. Wir wissen viel mehr, als wir verstehen. Wir kennen viel mehr, als wir gut balanciert verarbeiten und Interpretieren können. Und wir bemühen uns auch selten um gerechte Deutungen, sondern lassen unseren Impulsen freien Lauf, wo wir nicht in der Pflicht der Professionalität stehen. Jedoch ist die Arbeit an diesem ganzen Komplex an Wissen, Technologien und hochentwickelten Kommunikationsformen von einem fine-tuning der Interpretation abhängig, es reicht nicht, viel zu kennen.

Der Experte, der eine ideale Authorität darstellt, hat nicht nur die Fakten, sondern auch das praktische Wissen im Umgang damit. Und der Experte als Einzelner selbst genügt auch nicht, sondern Spezialistenöffentlichkeiten bieten wechselseitige Korrektive, um die Vereinseitigungen auszugleichen, die Einzelnen leicht passieren. Nicht nur Fakten, sondern geübte Intuition, professionell gepflegte Tugenden und nicht zuletzt die Einbindung in ein verlässliches, kritisch begleitendes Experten-Kollektiv stärken die Vertrauenswürdigkeit einer „Authorität“. Das ist extrem viel. Wenn wir davon etwas als Laien nachvollziehen wollen, müssen wir uns sehr anstrengen, sehr auf das Gleichgewicht in unseren Motivationen achten, darauf, dass nicht Wunsch und Furcht anstelle unseres Hungers nach Einsicht regiert. Und wir müssen Geduld lernen, die uns als modernen Hochfrequenzentscheidern fehlt.

Zugleich scheint es mir, dass in Coronakrise eine übersichtliche Präsentation relevanter und Entscheidender Daten und Überlegungen diese Geduld sehr bestärken würde. Es ist schon verständlich, dass manche Leute halb wahnsinnig werden, wenn sie sehen, dass ihr Geschäft in die Insolvenz rutscht, oder dank der Corona-hauruck-Digitalisierung nicht nur die Kinder zuhause haben, sondern auch noch beruflich mit vielen Sonderaufgaben überfrachtet sind. Da ist der irrationale, kindliche Impuls nachvollziehbar, Schuldige zu suchen, die „Eltern“ auch für etwas verantwortlich zu machen, was schlicht in der Situation begründet liegt.

27.03. In diesen Tagen wird vieles abgewogen, Wirtschaft gegen Gesundheit, Freiheit gegen Sicherheit, Gefahren der Epidemie gegen Gefahren im Häuslichen. Es werden Wertfragen neu gestellt, Leben und Würde wird neu ins Gewicht gesetzt, die Bedeutung von Gesundheitswesen, würdigem Sterben, sicherem Altwerten, auch die Verantwortung der Staaten gegenüber ihren Bürgern tritt mit neuer Prägnanz ins Bild. Und anstelle der sportlichen Helden und Wettkämpfer treten jetzt politische Akteure, Vertreter von Staaten, Gesundheitsorganisationen, Ethikräten, Wirtschaftsorganisationen, die mit der Epidemie und mit ihren Folgen kämpfen. Aber auch Systeme und Teilsysteme treten als kämpfende Instanzen in den Blick, in dem sie einer Bewährungsprobe ausgesetzt sind. Messi, Ronaldo, Federer, Nadal, Djokovic und die anderen, die Symbolisierer unserer menschlichen und systemischen Leistungsfähigkeit sind von der großen massenmedialen Bühne abgetreten, um den tatsächlichen Entscheidungsträgern und Systemen das Scheinwerferlicht, also den massenmedial fokussierten Kampfplatz, zu überlassen. Jetzt stehen die Wirklichen im Licht, aus dem Dunkel vaguer Vorstellung heraus in definierte Rollen. Während verschiedene Funktionen der Teilsysteme durchgespielt, ihre Rollen für das Ganze gegeneinander gestellt und abgewogen werden, wird mehr der komplexe Korpus der Gesellschaft als organische Einheit erahnbar.

24.03. Alles hat sich um mich herum geändert, die Welt hat sich geleert, verlangsamt, und hunderte Millionen von Augen starren auf die Entwicklung von Zahlen, auf Exponentionalfunktionen, die zu entscheiden vorgeben, in welchem Rahmen unser Leben in den nächsten Monaten, in den nächsten Jahren gestaltet werden kann und muss. Es ist, als würden bald die Karten neu gemischt, als müssten viele von uns sich neu auf den Weg machen, neue Existenzen aufbauen. Aber jetzt entwickeln sich nur die relevanten Zahlen und wir Schreibenden und Künstler haben, dann, wenn uns nicht die Geldsorgen zu sehr plagen, etwas Zeit, uns zu besinnen, und darüber nachzudenken, wozu wir da sind, und wie wir dies in kleinerem Rahmen auch leben können. Gerade in diesen Zeiten allgemeiner Isolation und Tempoabnahme, wo für Viele ausnahmsweise Streß und schnelles Handeln keinen Vorteil bringt, mag die Bedeutung von Kunst, Musik und Dichtung zunehmen. Viele sind mit sich alleine, möglicherweise bedrängt mit aktuen existenziellen Sorgen, haben aber auch etwas mehr Zeit, mehr Aufmerksamkeit ohne konkretes Jetzt-Müssen, ungebundene Aufmerksamkeit, die von Kunst geleitet werden kann. Kunst kann die Aufmerksmkeit aus verschiedensten Perspektiven und anhand verschiedenster Anlässe darauf führen, worum willen wir da sind, worum es sich zu leben lohnt. Auf das bunte Leben, die Vielfalt der Stimmen, der menschlichen Charaktere und Lebensentwürfe, die Verbundenheit mit nahen Menschen, der verführerische Zauber des Lebendigen.

Ich habe mir auf youtube Videos des jungen Ensembles „comet musicke“ angehört und bin jedes mal wieder gefesselt von dem Reichtum der expressiven Töne, von der klanglichen Differenziertheit, den energetischen Führungen der Impulse und der mitreißenden Lebendigkeit. Da kommt Freude und Trauer, Geheimnis, Begehren und Zorn, Leben und Tod auf ganz engem Raum zusammen, geht ein Tonfall kaum merklich in den ganz anderen über, zusammengehalten von einem Fluss der Bewegungen, einem rhythmischen Puls.

19.03. Man hört oft, die strikten Beschränkungen des öffentlichen Lebens wären zum Schutz von jenen Personen, für die Corona ein besonderes Risiko darstellt. Ist das der ausschlaggebende Grund? Ich stelle mir vor, ich wäre über 80 Jahre alt und Diabethiker. Möglicherweise würde ich es vorziehen, selbst für einige Monate in Präventivquarantäne zu gehen, würde es vorziehen, wenn auch andere Personen, für die Corona hoch riskant wäre, gemeinsam in Quarantäne gingen und die übrige Welt einfach weiterwerkelte, die Welle über die Gesunden hinweg und ins Aus liefe. Mir würde es möglicherweise nicht gefallen oder auch nur unverständlich bleiben, wenn die Welt derart drastische Anstrengungen unternähme, anstatt den leichteren Weg zu nehmen mir und meinesgleichen längerfristige Unfreiheiten zuzumuten.

14.03. Mir kommt unsere Wohlstandszivilisation vor, wie ein Schiff, das permanent und immer schneller umgebaut werden muss, an allen Stellen, geordnet und nicht überall zu gleich, ein Schiff, dessen Materialien, Bauteile, Verbindungsstücke usw. rundum in immer schnelleren Takt ersetzt werden müssen, damit das Wohl erhalten bleibt, damit die Wettbewerbsfähigkeit, die Finanzierung von Sozialsystem, Bildungswesen, Infrastruktur, medizinischer Versorgung… am Leben gehalten werden kann. Die Spielräume für einen Wandel sind angesichts der immer komplexeren Verantwortungen und Verpflichtungen, die uns als Einzelne und als Gruppen binden, gering. Möglicherweise braucht es konkrete Bedrohungen von außen, um neue Spielräume freizusetzen. Die Herausforderung durch den Coranavirus liefert mit seinen umfassenden praktischen Konsequenzen Vorlage und Modell einer weltgesellschaftlichen Antwort auf eine Bedrohung, ein Modell, dass auch neue Spielräume für ökologische Neuerungen hervortreiben könnte.

11.03. Es ist nicht leicht, von den Effekten technologischer Veränderungen ein zusammenhängendes Bild zu gewinnen. Insgesamt gibt es ein Wachstum großer Einheiten (Konzernen, Infrastrukturnetzen, bürokratischen Ordnungen, Finanzierungswegen) zu immer weitgreifenderen, komplexeren Hierarchien, deren Veränderungen zur optimalen Systemanpassung an neue Situationen top-down entschieden werden. Die Umstrukturierungen verursachen dann in der Umgebung der Systeme ein großes „Rütteln“, nötigen Individuen, Familien, Firmen, Vereinen usw. neue Anpassungen auf, treten Wellen von Arbeitslosigkeiten los, Wellen von Ehescheidungen, Berufswechseln, psychischen Krankheiten (Ein Wechsel des Computersystems oder der Finanzierungsform an einer Universität so und so viele Burnoutfälle, soundso viele Ehescheidungen,…). Aber es gibt auch unvermutete Gewinner, die jetzt an die Reihe kommen, nachdem sie lange rumprobierten und warteten. Diese unberechenbaren Bewegungen, mit ihren immer wieder ganz neu aufspringenden Unmöglichkeiten und Möglichkeiten sind jetzt ein relevanter Aspekt der Gesamtsituation, etwas, worauf wir eingereichtet sein müssen, wenn unser Leben gelingen soll. Wenn unser Bedürfnis nach Kontinuität, Vorhersehbarkeit, langfristigem Sinn groß ist, müssen wir ankerbare Kontexte finden, die von den Stürmen des Finanzmarktes, der Umschichtungen durch neue Organisationsstrukturen und neue Technologien nicht betroffen sind.

10.03. Gestern ein langes Gespräch mit einem Künsterfreund über Gewalt in der Kunst. Mir schien, dass ein Ausdruck von Macht oder Gewalt, sei es in Bachscher Orgelmusik, in einem Drama von Shakespeare oder in einem Hanekefilm neben aller künstlerischen Finesse, aller Ernsthaftigkeit der Botschaft immer auch soetwas wie eine Wehrhaftigkeit symbolisiert. Diejenige Ästhetik, die nicht Macht und Gewalt versteht, scheint naiv, entspricht einem Bewusstsein, dass nicht für die Herausforderungen der Realität gewappnet ist. Dasselbe in der Trivialkultur, die Actionfilme, Heavy Metal, Schooterspiele. Sie erscheinen wie symbolisch-imaginäre Burgen und Waffenarsenale, die durch Liebhaberschaft „besessen“ werden. Mein Künstlerfreund meinte, dass jedoch im Film oft Gewalt gar nicht verstanden sei. Selbst Tarantino, der tolle Filme mache, verstünde am Ende nicht wirklich die Gewalt. Er bliebe auf der Ebene eines Kindes, das Indianer und Cowboy spielt. Dasselbe gilt, so scheint mir, bei den meisten Gewaltfilmen, den meisten (der allen?)-Metal-bands, gewaltorientierten Computerspielen usw. Aber was heißt es, Gewalt zu verstehen? Nach meinem Besucher eben zu verstehen, was es mit den Menschen macht, welche Spuren es hinterlässt. Es genügt nicht, Gewalt als Mittel der Macht zu verstehen, sondern die ganzen Spuren, selbst im Nachleben, in späteren Generationen wären zu verstehen, zu verstehen, was droht, wenn Gewalt droht.

Ich frage mich, worin sich denn ein angemessenes Verstehen von Gewalt in der Kunst äußert, in welcher Umgebung, in welcher Art von Balance. Ich habe am Abend nach Nonos „a floresta“ (mit Improvisationen des „Living Theater“) recherchiert, einem der gewaltsamsten Musikstücke des 20. Jahrhunderts, das ich in der Studienzeit wiederholt bei Freunden auf eine Langspielplatte gehört hatte, und das immer wieder – in seinem Kontrast zwischen poetischen Klängen und solchen, die nach Folter klingen, nach Menschen die von Granaten in der Luft zerrissen oder in Hitze zerschmolzen werden – eine unheimliche Schockwirkung verbreitete. Ohne das Stück, die verarbeiteten Texte und Ideen wirklich zu kennen, erschien es mir als massivstes klangliches Kriegsmahnmal. Es ist insbesondere in der zweiten Hälfte wie ein Albtraum, mit ungeheuerlicher Realitätssuggestion, und immer wieder in der Spannung mit einer Hoffnung, die niemals endgültig verschwindet. Ich fand dieses Stück nun, mit einem neuen Mix (nach Jahrzehnten) neu auf dem Markt, auch im Netz zur Verfügung und werde mich damit beschäftigen.

18.12.19/ 10.3.20. Nono, Bach oder Ockeghem überzeugen mit einer Schönheit, die Schatten des Lebens kennt, eine Schönheit, die den Erfahrungen von Schwäche, Leiden, Gewalt, Krankheit und Tod standzuhalten scheint, die vom Elend nicht zunichte gemacht wird. Allerdings frage ich mich, ob diese Musiken mit ihrer emotionalen Leuchtkraft, ihrem eigenen Zauber, ihrer Intimität und Würde auch der Bürokratie, der Banalität eines alles fordernden Wettbewerbs standhält. Der Banalität eines Alltags, der mitunter volle Kraft und Aufmerksamkeit fordert, der unter Joche von Dauerdruck und Routinen zwängen mag, ohne dass es um Dinge geht, die irgendwie einen weiten, resonanten Kontakt zulassen. Architektonische Musiken wie bei Mozart oder Bach passen sich vielleicht besser in den fordernden, vielfach von autonomen Regeltexturen gelenkten Alltag ein, als weniger architektonische, mehr organische Klangformen wie bei Ockeghem, Nono oder Scelsi, deren Musik mit dem Licht des Himmels und den Bewegungen der Wolken, dem Wind, den Oberflächen des Wassers und dem Wuchs der Bäume korrespondiert, sich jedoch merkwürdig gegen die Wiederholungen und tausenfachen formellen Verantwortungen des Alltags sträubt.

13.12/10.03. Beim Hören von Popmusik oder Rockmusik finde ich immer auch einen spezifischen Gestus der Freiheit und expressiven Selbstbehauptung, einen Gestus individualistischer Behauptung und Verteidigung eigener Lust, eigener Sicht, eigenen Wegs durch die Welt. Bei Björk berührt und beeindruckt mich der Impuls und Wille zu maximalem Kontakt mit der Welt, maximaler Resonanzerfahrung mit Dingen und Menschen. Es ist, als wolle sie die Welt umarmen. Dem ist zugleich etwas von dem Kampf um Selbstbehauptung beigemischt, Behauptung einer eigenen Welt, die einen sonderbaren Zauber enthält, der etwas romantisch Entrücktes mit etwas futuristisch anmutenden Klangesten verbindet, die die Utopie einer Einwurzelung in Natur und technische Zivilisation suggeriert.

Mir scheint eine tiefere Aufgabe der Kunst darin zu bestehen, einer inneren Welt zu dienen, eine innere Welt gegen die Ansprüche von Außen zu verteidigen. Bei Holliger ist ein solcher Anspruch paradigmatisch, insofern er sich gerade in den leisen Tönen als „Ohrenspitzer“ im Zuge eines „inneren Widerstandes“ versteht.

8. Oktober. Holliger und Kurtag, Zwiegespräche, Oboen, manchmal Oboe und Englischhorn. Bei diesen beiden Komponisten ist viel Fülle des Subjektiven, subjektive Stellungnahme, individuelle Entdeckung von Geheimnis, von Leben, und eine stille Mitteilung an den einzelnen Hörer. Mir schien es, als hätte nun die Pop- und Rockmusik mehr und mehr die Aufgabe der Vertretung des Subjektiven übernomen, die Aufgabe des Ausdrucks eines vielschichtigen Verhältnisses zur Welt (Björk, Radiohead, Tool u. a.), allen lauten Rahmenbedingungen der massenmedialen Welt zum Trotz. In der klassischen neuen Musik hingegen besteht mehr die Aufgabe der Symbolisierung des intersubjektiv Geltenden und des Objektiven, des Umgangs mit dem Objektiven und Objektivierten, so dass die Haltung von Holliger oder Kurtag wie als Überbleibsel einer früheren Zeit erscheint, aus einer Welt ohne Fernsehen, ohne Internet, ohne Rockfestivals.

(Nachtrag 18.12.) Mir scheint überhaupt, dass die sogenannte klassische oder „ernste“ Musik immer die Balance zwischen dem hochanspruchsvollen Korpus geltender Regeln und kanonischer Texte einerseits, und der subjektiven Erfahrung andererseits zu meistern hat. Man denke an die „symphonischen“ Messmusiken des 15. Jahrhunderts, die Fugenwerke und Passionen Bachs, die Quartette, Sonaten und Symphonien Beethovens, aber auch an die Werke der Schönbergschule, den poetischen Marxismus Nono. Hier ist immer irgendwie das Subjektive auch schon objektiv, das Gefühl ausbalanciert und mit Wissenschaft oder mit Ideen der Gottesnähe, der Humanität vermittelt, und zwar oft auf dem Boden einer reichen Gelehrsamkeit. Die Überzeugungskraft wächst dort, wo sich die subjektive Fülleerfahrung, Antworterfahrung, Resonanzerfahrung mit dem Eindruck einer intersubjektiven und intellektuellen Angemessenheit vor dem Horizont weitester Kenntnisse und etablierter Normen verbindet und darin stärkt. Man könnte fragen, ob heute nicht das Subjektive in der sogenannten „ernsten Musik“ meist zu kurz kommt, und das Intersubjektive, Normative und Objektive überdimensional groß geworden ist.

Man vergleiche bspw. Nonos „erratische“ Einheit von archaischer Monumentalität und moderner Subjektivität, politischer Emphase und weitem Kulturwissen, das mythisch-Elementare in seinem Spätwerk mit Lachenmanns unendlichem Reichtum der Klangerzeugungen, den vielfachen Klangverästerlungen und der ebenso souveränen, vielfältigen und klaren Essayistik, vergleiche Lachenmanns regelrecht enzyklopädisches Erschöpfen von Möglichkeitsspielräumen, die sichtliche formelle Reife seiner Werke gegenüber der eher „informellen“, „fragmentarischen“, in immer wieder neue Epiphanien führenden Werk-Einheit bei seinem Lehrer Nono. Ähnlich ein Vergleich von Rothko und G. Richter, wobei hier keine Schülerbeziehung vorliegt: Die Differenziertheit und Vielschichtigkeit bei späten Rakelbildern (seit den 1990ern) bei Richter lässt eine Vielschichtigkeit und subtile Meisterschaft erkennen, wo bei Rothko gar schwer greifbar ist, worin eine solche Meisterschaft bestehen könnte. Und dennoch haben die Arbeiten Rothkos eine Unbedingtheit und Kraft, eine elementare, mythische Qualität, die bei Richter ebensowenig wie bei Rothkonachahmern erreicht wird.

14. April. Ich frage mich, wie der Wandel in eine neue, sozial und ökologisch verträglichere Lebensform vonstatten gehen soll, wenn so viele wunderbare Idealisten um mich herum bis zum Halse in Verpflichtungen, unbezahlten Schulden, Konflikten und Krisen stecken. Und viele zwischenmenschlichen Beziehungen sind voll von Neid, Haß, Empörung, Gegenempörung, was ich oft an kleinen Dingen entzündet. Manchmal entsteht der Eindruck: Ein jeder kämpft seinen einsamen, individualistischen Kampf, so wie es die amerikanischen Serien predigen. Ist da wirklich Platz für ein Wenden des Lenkrads? Bei Einzelnen?

Das moderne Leben ist voller Chancen, Überraschungen und Wunder, wenn man es positiv sehen möchte, oder, voller Unberechenbarkeiten, unübersichtlichen Handlungsfolgen von teils katastrophalem Ausmaß, wenn man es negativ sieht. Wir wählen zwischen Alternativen, die wir nicht kennen, und wählen immer mehr, kaufen, konsumieren, ohne nur mehr als einzelne Aspekte der Handlungsfolgen zu können, ohne wirklich zu kennen, was wir uns einkaufen, ohne die Verpflichtungen, die wir eingehen, in ihrer Tragweite zu ermessen (Und dies gilt teils auch für Gruppen, für Institutionen, für Staaten, die auch längst nicht mehr verstehen, was ihre Entscheidungen langfristig bedeuten, für uns alle, für die Welt, wobei die Möglichkeiten noch immer mehr und unübersichtlicher werden). Und bei allem wird es immer mehr zur Kunst, den Überblick zu halten, die eigenen Kräfte einzuteilen, sich nicht durch Entscheidungen zu überfordern und in ausweglose Dilemmen hineinzukatapultieren. Es ist ein Teil heutiger Lebenskunst, die Dilemmen, das eigene unschöne Handeln im Dilemma, einfach auszuhalten und in einem daueraktiven, kämpfenden Warten auf bessere Zeiten zu verharren.

Wie soll aus uns einsamen Kämpfern eine wirksame Kraft zur Stärkung einer Zukunft werden, eine wirksame Kraft, die neue Hoffnung wachsen lässt und ein vertretbares Dasein, ein guten Gewissens lebbares Leben? Die Kämpfe des Lebens rauben vielen von uns die nötige Kraft, auch nur zu träumen, geschweige denn aktiv zu werden. Wir sitzen verzweifelt fest in unseren Käfigen der Selbstbehauptung.

Aber manchen gelingt es, sich zusammenzuschließen, die zwischenmenschlichen Reibungen zu minimieren und sich in den Bau alternativer Lebensformen zu integrieren, in Initiativen der Baumpflanzungen, oder des Anbaus von Essabarem im großstädtischen Raum, der Arbeit an einer öffentlichen Transparenz von Änderungsmöglichkeiten. Manche haben den freudigen Impuls zu einem sanften Umlenken des Weges und einiges Geschick, was viel Hoffnung macht. Und vielleicht kann sich auch der eine oder andere feste Kampfgriff angesichts wichtigerer Ziele, angesichts der Möglichkeit eines sanften Wandels lockern.

Die Hoffnung auf einen sanften Wandel ist von großer Bedeutung. Denn sonst steht bei uns die Demokratie, und überhaupt vieles auf dem Spiel, nicht nur das natürliche Gleichgewicht, dessen Destabilisierung in Graden kommt, sondern auch vieles, was wir als Errungenschaften der Kultur betrachten. Auf dem Spiel steht unsere Mündigkeit, die Grundlage der. Denn wenn es uns nicht gelingt, einzulenken, wird möglicherweise uns einst Staatsgewalt unsere Mitsprache entziehen, wenn eine Notbremse gezogen werden muss. Oder, und dass wäre vermutlich schlimmer, sie wird nicht gezogen.

23. März. Wenn mich jemand fragte, wie Gott oder Götter aussehen könnten, wollte ich antworten: vielleicht so ähnlich, wie Shiro Shirahata in den 80er Jahren die pakistanischen Berge fotografiert hat. Baintha Brakk, Muztagh Tower, Haramosh, Rakaposhi, Masherbrum, K2, Broadpeak – alles keine „heiligen“ Berge, sondern eher wie Götter unter sich, abseits des Interesses der Menschen, Berge, die – teils weitab von den bewohnten Tälern – an ihren Hängen und in den Tälern um sich große Eismassen ansammeln und damit das Wasser für Millionen von Menschen speichern. Shirahata porträtierte sie mit ihren oft anthropomorphen Formen, mit kleinen Wolken um die beschneeten Häupter, Nebel, die anmuten, wie erkalteter göttlicher Atem. Im Baltorogebiet bilden die Figuren Gruppen, stehend, sitzend, teils wie kämpfend, Ausdruck der Kräfte, die vom Erdinnern aus Platten der Erdkruste verschieben, aufwerfen und versinken lassen. Und die Bilder haben oft etwas Überraschendes, Unerwartetes, tragen oft die Impression von einem Wunder, Schneewände, die sich öffnen wie Blüten, riesige Felsformationen, die Kristallen ähneln, oder verwitterten Baumstümpfen, Schutthalden, deren Ordnungen an einen göttlichen Garten erinnern.

Ganz gleich ob im Bild, in der Skulptur, im Klang, in der Geste oder im Wort – neben all den kritischen Intentionen künstlerischen Schaffens scheint mir das Wichtigste ein Entdecken und Hervorbringen und Intensivieren des Blicks für etwas Selbsttragendes, Wunderbares im Leben, etwas, wofür es sich lohnt, da zu sein, die Mühen und Unmöglichkeiten des Daseins zu tragen. Alle Kritik, so scheint es mir oft, gewinnt ihre Stärke von so einem Blick, zehrt von ihm.

23. Februar. In den Neunziger Jahren schien mir und vielen Weggenossen ein Wandel der Gesellschaft, von einer Leistungs- und Konsumgesellschaft zu einer asketischen, sozialen und poetischen Leitkultur notwendig, und viele geistig Bewegte waren von einem entsprechenden Lebensgefühl bestimmt. Umweltzerstörung und Soziale Ungerechtigkeit waren große Themen, und die Frage nach einer angemessenen Haltung. Die Filme Tarkovskis waren präsent, die Idee, dass mit unserer Zivilisation etwas grundlegend falsch gelaufen sei, diese angesichts eines Raubbaus an der Zukunft keine Berechtigung mehr hatte. Und zugleich Ansätze zu einer alternativen, und aufwendigen, aber spirituell tiefen Lebensform.

Es schien das sinnvollste, alle Anstrengung auf die Suche nach einem alternativen Weg zu widmen, einer modernen Kultur des Verzichts, der Langsamkeit, der Dehnung der Zeit, der Fülle im Einfachen, verbunden mit einer anspruchsvollen geistigen, ästhetischen, pragmatischen und moralischen Kultur, um die gegenwärtigen und zukünftigen Probleme zu meistern. Eine entsprechende Haltung fand immer wieder auch Zuspruch seitens Altersgenossen, Lehrern und Professoren, Karriereplanung und die Perfektion einer geschäftstauglichen Selbstpräsentation, schienen vergleichsweise unwichtig. Angesichts der Präsenz einer veränderungsbereiten Atmosphäre konnte ich es dann gar nicht glauben, wie mit rasanten Globalisierungsbewegungen erst einmal das Gegenteil, eine neue Beschleunigung einsetzte, eine neue Akzeptanz einer Herrschaft des Marktes und seiner Gesetze, Akzeptanz eines alle Lebensbereiche durchdringenden Wettbewerbs, dessen anerkannte Priorität, ein damit verbunden neuer verstärkter Anpassungsdruck, der mich wie viele andere immer wieder neu ins Straucheln brachte.

Man nannte uns oft „Generation Praktikum“, und dies ist nicht zuletzt die Folge des digitalisierten und globalisierten neuen Kapitalismus, der den Unvorbereiteten Utopisten und Idealisten unter uns lange Jahre der Arbeitslosigkeit oder der Praktika aufbürdete. Bis wir die Impulse und Evidenzen hinter einstigen Aufbruchsatmosphären vergaßen, sie nicht mehr verstanden und nun vielmehr in Frage stellten und einen Weg der Anpassung suchten, um doch irgendwie unter den neuen Bedingungen der Ressourcenverteilung durchzukommen.

Im Moment brechen überall in der Welt seitens einer neuen Generation Stimmen durch, die eine neue Hoffnung verbreiten. Radikale, fordernde Stimmen, die es benennen, dass wir, wenn wir so weiter machen, große Teile unserer Kulturleistungen, unserer Errungenschaften zunichte machen, dass sie alle nichts sein, nichts bedeuten werden, wenn wir keine Kehre schaffen, dass sie als trügerischer Glanz an der Oberfläche verhängnisvoller Irrungen und moralischer Versagen sein werden, wenn wir aus der neuen Situation nicht lernen, wenn wir nicht Verantwortung lernen, als Einzelne, als globalisierte Gesellschaft. Unsere Würde, die Würde unserer Kultur steht auf dem Spiel und wenige, nur sehr tiefe, spirituelle, geistliche, oder einfach tief empathische Menschen werden noch eine Idee davon haben, was Würde ist, wenn unsere Gesellschaft, wenn wir alle nicht die bleibenden Chancen ergreifen, in eine andere, langfristig lebbare Richtung umzubiegen.

Das ist die Lehre neuer, frischer, jugendlicher, zukunftsträchtiger Stimmen, und sie erfüllt mich mit Hoffnung. Die Jugend hat längerfristig den Schlüssel zur Sanktion in der Hand, das Zuckerbrot, wie die Peitsche. Was wir nicht teilen können, ist uns selten etwas wert. Die Jugend entscheidet letzten Endes, was in Zukunft reizvoll, was lebenswert sein kann, was zu feiern, zu teilen ist, und was auszuschließen. Die Jugend hat heute nicht die Macht, aber sie hat das Potenzial des Zaubers, Bedeutsamkeit zu gestalten (Das hat die Welt des Wettbewerbs verstanden: Nicht die Produkte der Anbieter sind begehrenswert, sondern die jungen, gesund leuchtenden Gesichter auf Werbeplakaten, die Zukunft, Freiheit, Teilhabe, Führsorglichkeit zu versprechen scheinen, und die beworbenen Produkte mit dem Zauber dieser Verheißungen belegen).

Wenn die Älteren keine Versprechen mehr geben können, weil sie die Zukunft verspielt haben und ihre Wege keine Vorbilder mehr liefern, dann hängt es an den Jüngeren, eine andere Richtung einzuschlagen, und sie können mit ihrer Feierlichkeit, ihrer Lebendigkeit anderen Möglichkeiten Leben einhauchen. Und am Ende werden die heute Jugendlichen entscheiden, was später mit den Überlebenden früherer Generationen geschieht, sie werden nicht nur Zauber und Symbolik des Begehrenswerten tragen, sondern auch die Macht haben.

Wenn ich vor einigen Jahren gegenüber jenen, die mir mangelnde Anpassung vorwarfen, sagte: „Einst wird man eure Lebensweise mit dem Nationalsozialismus vergleichen und das, was euch heute glänzt, wird nichts mehr gelten“, so war meine Sprechen von verzweifeltem Trotz. Heute habe ich das Gefühl, dass genau dieser Gedanke viele Jüngere Menschen bestimmt, und in Bewegung setzt und für Alternativen öffnet. Dies ist der Eindruck: An der Frage des Naturschutzes scheint sich zu entscheiden, ob die Zivilisationsgeschichte als Ganzes eine Geschichte des Erfolgs, der Vernunft und der Sinnhaftigkeit und oder eine Geschichte des Scheiterns, der Unvernunft sein wird.

21. Februar

In der Ästhetik gibt es die Frage, ob die Gefühle, die wir in Romanen, Tragödien, Musik usw. erleben, dasselbe seien, wie die Gefühle im wirklichen Leben, oder etwas ganz anderes, fiktive Gefühle, Phantasiegefühle oder Ähnliches. Mir scheint, dass die Betroffenheit in der Musik Ockeghems dieselbe ist, die ich erlebe, wenn ich einen Menschen sehe, dessen Leben nach einem Unfall zerstört ist, der nur noch das Dasein hat. Es ist dieses existenzielle Pathos, der Schmerz über die Unmöglichkeit, eine endültige (ich denke an fünfstimmige Sätze, insbesondere die Schlüsse darin im Spätwerk Ockeghems: es ist auch eine empathische Wärme im Klang, die möglicherweise in der Chormusik singulär ist). Und Ockeghems Requiem ist eine echte Begräbnismissa: In keinem Werk der Musik habe ich die Auseinandersetzung mit dem Tod so transparent empfunden: Die Klangbewegungen im „Introitus“ und in anderen drei- und vierstimmigen Partien sind echte Begräbniszüge, die in ihrem schweren Schreiten den für uns völlig unbegreiflichen Übergang des nahen Menschen aus dem Leben in eine rein geistige Präsenz, das Bleiben des Verstorbenen in den Gedanken und Erinnerungen, in der Vollendung seines Lebens ebenso mitsprechen, wie den Schmerz des Verlustes, die Fremdheit und Dunkelheit des Todes. Und die bewegende, ebenso nahe, wie gespenstisch-befremdliche Ruhe im Klangmeer des „Rex Gloriae“, die Illustration des Nachthimmels der Verheißungen einer Zukunft im „Olim Abrahae“ sind von großer Eindrücklichkeit. Hier ist die Erfahrung und Idee hinter theistischen Vorstellungen ästhetisch erlebbar.

Ockeghems Schlüsse, insbesondere im Spätwerk sind oft endgültig, so endgültig, wie sie mir in kaum in Werken anderer Meister begegnet sind (am ehesten noch bei einigen Werken von Musikern, die als Ockeghemschüler gelten, wie Agricola oder Desprez). Oder das Ende der Missa Mi Mi, die als Passionsmusik gilt, ist wie ein sanfter Tod nach einer langen Reise, ein Tod, der in eine Ewigkeit ausläuft, in ebenso statische wie schwebende Klänge, die zuletzt sich in klangliche Helle auflösen.

Wenn man die Harmonien analysiert, sind es oft genau diejenigen, die in Filmmusiken, in Szenen des Verlustes, des Abschieds usw. gerne verwendet werden, vielfache Seufzermotive, Sexte auf Quint, harmonisch verschachtelt, in sich unendlich sentimental, jedoch mit der kunstvollen kontrapunktischen Kunst zu einer Objektivität, mit einer kosmischen Ordnung und Qualität des Erhabenen in ein Gleichgewicht gebracht. Ein Extrembeispiel ist auch das „Salve Regina“, dass trotz der Omnipräsenz dynamischen Rolle von Seufzern und ähnlichen melancholischen Motiven eine ungemein robuste, kraftvolle Klanglichkeit entwickelt. Die wiederkehrende Elemente werden konsequent in Variationen gebunden und versteckt und von oft überraschenden Öffnungen weiter Klanghorizonte umgeben, so dass die musikalische Sprache niemals als billig erscheint und stattdessen immer unberechenbar bleibt und so etwas wie einen „Naturalismus“ der Gefühlswelt existenzieller Situationen zeigt.

Mich wundert es immer wieder, dass die Musik Ockeghems nicht bekannter ist. In ihr scheint die Idee einer „inneren Welt“, die von weltlichen Zwängen befreit ist, ungewöhnlich stark präsent, scheint mir auch das Utopische näher, als in der meisten anderen Musik. Und alles ist unfest, in stetem Wandel begriffen. Ockeghems Kirchenmusik ist möglicherweise den religiösen Hoffnungen, Ideen, der religiösen Philosophie, die im Mittelalter einen Höhepunkt hatte, noch näher als die geistliche Hochmusik der Neuzeit. Und ich bin mir, wenn ich Meisterwerke wie das Requiem, die Missa Cujusvis toni, oder die Missa fors Seulement höre, sicher, dass sie einst ähnlich geschätzt werden, wie Meisterwerke Bachs. Die musikalische Tiefe bei Ockeghem ist ähnlich, wie bei Bach, ein oft unbedingter Ernst, eine großer großer emotionaler Reichtum und eine Schlichtheit im Detail, viel Ruhe, Hoffnung und Wohlwollen im Ausdruck, eine Schönheit, die die Schattenseiten der Existenz verstanden, ja integriert zu haben scheint. die Ordnung und Komplexität ist aber eine andere. Die ästhetische Ordnung ist bei Ockeghem eher organisch, die polyphone Bewegung diejenige von Stromschnellen, oder die Bewegung des Windes in den belaubten Bäumen, oder auch an der menschlichen Bewegung und Geste orientiert. Die Regelmäßigkeit bei Ockeghem ist eher die des Rhythmus der Regentropfen, die der Wellen im Mehr, oder diejenige des Wuchses von Ästen und Zweigen an einem Baum, oder die der Bewegungen der Wolken am Himmel. Es ist keine architektonische Ordnung wie in der Barockmusik, und die der Naturschönheit näher (das gilt auch für die weltlichen Lieder, die eher Miniaturen darstellen). Die Komplexität liegt hier auch mehr im Detail, das dem organisch Komplexen von Mineral-Kristallen ähnelt, und darin auch hohe Vollkommenheit erreicht. Und die Schönheit und Eleganz ist oft eine der Bewegung, aus dem Rhythmus, einem oft tänzerisch anmutenden Element gewonnen.

14. Februar

Die Richtung der Überarbeitung von meinen Erzählungen: Ein mehr an Präsenz gewinnen, mehr Momente einer Dichte von Gegenwart, die in sich selbst reich ist und tief, sei es Schönheit der Natur, eine Schönheit des Lebendigen in den dargestellten Charakteren – das ist neben den spezielleren Themen, den „zwiespältigen Späßen“, die Mission meines Schreibens: auf das Schöne und Tiefe anzuspitzen, das einfach da ist. Der Komponist Heinz Holliger beschrieb seine Rolle einmal als „Ohrenspitzer“. Entsprechend ist der tiefere Sinn, das längerfristige Ziel meines erzählenden Schreibens, meiner Umarbeitungen von Texten das Finden von sprachlichen Bildern, die eine selbstwerthafte, in sich ruhende Gegenwart evozieren. Und alle beschriebene, beklagte und belachte Leere, alle Absurdität, Disharmonie gilt es, zu dieser in Beziehung, in ein sprechendes Gleichgewicht zu bringen.

12. Februar

Ich möchte dass meine Gedanken einen Fluss bilden, einen Strom, der mit Kraft seinen Weg sucht und andere mitzureißen vermag.

10. Februar

Pegida ist überall. Auf der Straße, im Büro, in den Familien. Pegida ist politisch, weltanschaulich überall, in den selbstgefälligen Bezichtigungsrethoriken der Linken, im rechthaberischen Schimpf der Neorechten, in dem wechselseitigen Unverständnis der verschiedenen akademischen Stile. Wir verstehen den Fremden nicht. Sei er aus einer Krisenregion des Nahen Ostens, sei er aus einer entvölkerten Region der sächsischen Lausitz, einer fremden Religion oder politischen Farbe. Wir misstrauen den Träumen, den Ritualen, den Lagerfeuerliedern, den unterschwelligen Zielen und gefühlten Verpflichtungen des Fremden.

Der Assoziation der Ereignisse nach denke ich an eine in tausenden Stimmen schimpfende Walze, die sich durch die Straßen schiebt, ansteckend, die einen wie die anderen, mit- und gegenanzuschimpfen. Ich möchte ausbrechen, also denke ich z. B.: „Pegida erinnert mich, nur dem Klang des Wortes nach, an eine schöne Frau, im Stile Muchas, in einem tiefgrünen Park im Dämmerlicht, eine Jugendstilschönheit, verführerisch, groß, mit langem, dunklem, gewelltem Haar.“ Darüber wollte ich am liebsten eine Geschichte schreiben, um das Phänomen zu entkräften, wie ein magisches Schild aufzubauen, das Wort und das Phänomen zu überschreiben.

Die Schimpfgeschichte ist alt. Wer anfing, ist schwer zu sagen. Ärgerlich ist, dass diese Atmosphäre der Beschuldigung, die Fortzeugung in Weiterbeschuldigung und Gegenbeschuldigung, kein Ende zu nehmen scheint, und den Blick von scheinbar viel wichtigeren Dingen ablenkt. Es gibt wenig ernsthafte, sachliche öffentliche Debatten um die Fragen, um die es eigentlich geht: Das Ethos, Großzügigkeit oder Selbstbehauptung, Pragmatik und idealistische Hoffnung usw. – Fragen, wirklich schwierige Fragen, wo es um Balance- und Grenzentscheidungen geht. Stattdessen Wellen des häßlichen Bezichtigungsschimpfs, dumme, banale, hässliche Vorwurfsspiralen überall und das alles würde mich nicht so sehr ärgern, wenn ich selbst für mein Leben eine Strategie gefunden hätte, im Kleinen und Privaten solche übergroß gediehenen sozialen „Abwässer“ zu beseitigen.

Der Mangel an Sachlichkeit, der nicht nur den Medien und der Politik, sondern auch unserer disziplinlosen Informationskonsumkultur vorzuhalten ist, dieser Mangel, der ein Gesamtsystem zu charakterisieren scheint, das trotz vieler sehr guter Journalisten und Analysten keine angemessene Kultur der Sachlichkeit und des Interpretierens pflegt, erschient mir als ärgerliche Erweiterung, verlängerter Arm meiner eigenen unglücklichen Neigungen, zu Meckern, mich zu ereifern, recht zu haben, Schuldige zu suchen, egoistisch und unreflektiert zu simplifizieren. Aber auch eine Verlängerung, ein Bild meiner Neigung zu Feindbildern, an denen ich mich erheben kann. Wenn ich auch Meister Eckhart und anderen Mystikern glaube, dass wir im Tiefsten Eins sind, dass Feindschaft obeflächlich ist, eine Täuschung, so erinneret mich „Pegida“ – als politisch-mediales-moralisches Gesamtphänomen – immer wieder daran, wie weit der Weg für mich ist, diese Idee auch in eine konsequente Haltung übergehen zu lassen. Und im meinem Gegeneifern und Gegenbezichtigen sehe ich mich als unfreiwilligen, ja willenschwachen Teil einer Bewegung, die von den viel wichtigeren ökologischen, moralischen, sozialen und spirituellen Fragen ablenkt zu kleinlichen Vorwurfsdiskursen, deren moralischen und pragmatischen Opfer größer und größer werden.

Wenn hier etwas zu holen ist, dann geht es darum, kraftvolle Alternativen zu finden und starkzumachen, ein empathisches Denken, das in einem Frieden wurzelt, eine Atmosphäre, wo das Wichtige in einem Recht gesehen und berücksichtigt werden kann. Eine Dissenskultur, wo Interessen klar vertreten werden, die Präferenzen, Toleranzbereiche und ihre Grenzen ausgedrückt werden, jedoch dabei ein Ethos der Achtung vor dem Leben, Respekt vor der Realität und ihrer Problemtiefe, und des Respekts den Menschen gegenüber gewahrt bleibt. Vielleicht werden Einzelne und einflussreiche Gruppen von der Situation lernen, und in den heillos verstrickt erscheinenden Knäul der verstrittenen Positionen und Biographien den Ausgangspunkt zu einer hierzulande neuen Dissenskultur finden.

9. Februar.

Im sonstigen Leben und als Erwachsener trage ich vielfältige Verantwortungen, arbeite ich mich daran ab, Regeln zu befolgen. Diese Regeln sind oft kompliziert und schwer verständlich, ihre Nichtbefolgung kann folgenreich sein. Die Regeln und meine Akte der Selbstüberwindung im Sinne der Regeln unterbrechen fortwährend den Fluss meines Erlebens, den Schwung meiner Lust, den Zug meiner Neigung. Entsprechend schwach ist oft das Licht meines Geistes, das oft nur genügt, um – mit Anstrengung – wesentliche Dinge richtig zu machen.

Als Literat, abseits des offiziellen Lebens hingegen bin ich Künstler. Als Künstler bin ich Hedonist aus Berufung, ich folge dem Schwung der Neigung, in dem Vertrauen, dass diese, einem blinden Seher gleich, mich an Entdeckungen heranführt. Als Künstler darf und soll ich Kind sein, ein Stück Junge bleiben, ein Unreifer. Ich darf und soll immer wieder primär suchen, was mich begeistert, verpflichte mich dem, was reizt, Lust bereitet, was die Aufmerksamkeit weitet und vertieft. Dieses – die kindliche Bewegung des Spiels – ist mein Material, mein Weg, mein Schritt und Auge. Da darf, soll, muss ich durch, wenn ich sprechen will, einen Ausdruck für die diejenigen Erfahrungen, Sachverhalte, Entwicklungen finden, die mit dem größten Ernst, der größten Verantwortung behaftet sind.

Die Suche nach möglichen Mythen der Zukunft ist die Suche nach Bausteinen eines „soundtracks“ des Wandels. So wie in der Musik Luigi Nono’s, wo oft das friedvolle utopische Leuchten nah verbunden ist mit veränderungsschwangeren Klängen, einer untergründigen Schwebe und Unruhe, die die Bindungen an unserem Luxus als leicht und unwichtig erscheinen lässt, diese Schwebe, die aber manchmal auch abrupt von Äußerungen grenzenlosen Zorns aufgebrochen, in ein Meer von Trümmern und Splittern aufgelöst wird. Insbesondere Nono’s Spätwerk liefert klangliche Bilder eines Aufbruchs in eine andere Lebensform.

Hier ist der Ausgangspunkt ein doppelter Zwiespalt, ein persönlicher, ein gesellschaftlicher. Als Erwachsener unter dem Druck der Pflichten leide ich unter meiner Zerstreutheit, schäme ich mich der Illusionen, Täuschungen, Selbsttäuschungen, denen ich oft erliege. Als Literat mache ich aus der Not eine Tugend, sind meine Zerstreutheit und Unordnung Metaphern einer Zerstreutheit und Unordnung unserer öffentlichen Welt, sind meine Unsicherheit, Täuschung, mein Selbstbetrug und mein Versagen Bilder für die Unsicherheiten, Täuschungen, der Selbstsabotagen und des moralischen Versagens der öffentlichen Welt. Die persönliche Suche nach Ausgängen ist ein Bild für die Suche nach Ausgängen aus den Dilemmata der gesellschaftlichen Welt. Und so wie ich in der treibenden Kraft von Irrtümern Anderer oft etwas Schicksalshaftes, Gewaltiges, Existenzielles, Lebendiges sehen kann, möchte ich auch die Wahrheit, das Elementare, den Zauber, die „conditio humana“ in den eigenen Irrwegen sehen und verstehen.

Der Beginn des Schreibens steht ein Zwiespalt, der Weg geht in Richtung einer doppelten Lösung: einerseits einer kohärenteren, besser balancierten langfristig tragfähigen Lebensform, andererseits eines wohlwollenden, gütigen Blicks, jenseits eines inhumanen Perfektionismus, den wir im gesteigerten Wettbewerb erlernten.